Evakuiert - der S-Bahnschaden 18.6.2001 |
siehe auch: Reiseberichte |
Alt ist sie geworden, die Münchner S-Bahn, und zunehmend unzuverlässig.
Seit 1972 unterwegs, sind die Triebwagen überaltert und die Tunnelröhren
durch die Innenstadt chronisch überlastet. Man hat sich mittlerweile
daran gewöhnt, dass es eher Zufall ist, wenn der Zug pünktlich
kommt.
Daß die Strecke nach Taufkirchen hinaus nur eingleisig ist erschwert
die Situation. Selbst wenn der eigene Zug einmal pünktlich sein sollte,
so muß er doch auf die Ankunft des - möglicherweise verspäteten
- Gegenzuges warten. Aber es soll ja besser werden. Das 2. Gleis ist gerade
in Arbeit. Vor ein paar Wochen wurden Bäume und Pflanzen herausgerissen,
Schotter angefahren.
7:05 ist es, der 18.6.2001, ich muß in die Arbeit. Erst einmal zu
Fuß quer durch Taufkirchen. Am S-Bahnhof drängen sich die Schulkinder
mit ihren Taschen und Rucksäcken. 7:13, hinein in die alten Wagen.
Links ist ein Sitzplatz. Und los geht's. Unterhaching, vorbei am großen
Sportgelände. Die Unterhachinger sind ja gerade abgestiegen. Fasanenpark.
Jeden Tag geht es mit den Gleisbauarbeiten ein Stück voran. Fasangarten.
Gleich werden wir in Giesing sein. Für mich heißt das Umsteigen
in die U-Bahn.
Im Zug brennt Licht, die Schulkinder unterhalten sich oder lernen. Handys
bimmeln, SMS-Nachrichten werden getippt oder abgerufen, der Nachbar liest
gerade seine Zeitung. Plötzlich geht ein Ruck den Zug. Und dann rattert
es gewaltig. Ein Fahrgast ist erschreckt aufgesprungen. Ob der Triebwagen
aus den Schienen gesprungen ist und jetzt auf den Schwellen rattert? Ob
es zuviel des Schotter ist, von den Gleisbauarbeiten? Jedenfalls ist im
Zug das Deckenlicht links und rechts ausgefallen und dafür nun in der
Mitte angesprungen. Fahren tun wir noch und die nächste Station heißt
Giesing.
Kurz vorher bremst der Zug und bleibt an der Signalanlage stehen. Ob wir
auf eine verspätete S1 warten? So wird eine Weile spekuliert, bis die
Durchsage kommt. "Fahrleitungsstörung". Um Geduld wird gebeten.
Ruhig liest mein Nachbar weiter Zeitung, die Schulkinder unterhalten sich,
lernen oder spielen an ihren Handys herum. Ein paar hundert Meter weiter
fährt meine U-Bahn gerade ohne mich ab. Und ich sitze hier und warte.
Und wieder ertönt die Stimme des Zugbegleiters. Zum Fahrer hätte
er keinen Kontakt, die Stromabnehmer des Zugs seien abgerissen, Hilfe sei
unterwegs. Wie beruhigend! Die Schulkinder telefonieren mit ihren Handys.
Mancher wird wohl zu spät zum Unterricht kommen. Zeit zum Lernen gibt
es jetzt jedenfalls.
Und wieder tönt der Lautsprecher. Die Hilfe per Zug sei zu gefährlich
wegen des beschädigten Fahrdrahts. Evakuiert würden wir, Wagen
für Wagen, von vorn nach hinten, also Geduld. Plötzlich öffnet
sich die Türe und gibt den Blick auf's Gleis frei. So hoch ist das?
Und unten grober Schotter. Für Bahnfahrer mit Stöckelschuhen,
Gehbehinderte oder Rollstuhlfahrer ist es jedenfalls nichts. Vorsichtig
auf den Rand des Trittbretts, leicht gebückt und hinuntergesprungen.
Kein Zug auf dem Nebengleis, der uns stören würde.
So marschieren wir nun, einer hinter dem anderen über Schwellen, Schienen
und Schotter vorwärts, in Richtung Giesinger Bahnhof. Ein Blick nach
rechts zurück zum Zug. Wie Ruinen stehen die beiden nackten Metallhalter
nach oben, wo in Taufkirchen noch die breiten Schleifer zur Stromabnahme
befestigt waren. Einfach abgerissen! Die Oberleitung sieht ziemlich verzogen
aus. Ein welliges Auf und Ab. Da muß der Reparaturtrupp ran.
Mein Gleis endet abrupt an einem Prellbock und ein paar Meter weiter werden
wir über die Gleise nach rechts geleitet. Durch eine Lücke im
Zaun, ein Grundstück entlang, die Straße hinunter und dann links
Richtung Chiemgaustraße. Ein langer Bandwurm arbeitet sich auf direktem
Weg in Richtung Bahnhof vorwärts. Mancher Autofahrer ist nicht so recht
glücklich über die Behinderung des Verkehrsfluß.
Glücklicherweise regnet es gerade nicht. Die Orientierung fällt
leicht. Einfach immer der Menschenmenge nach. An der Schule vorbei und die
Rolltreppe hinunter zur U-Bahn. Das wäre geschafft!
Etwa 40 Minuten hat das Abenteuer Zeit gekostet. Dafür war es spannend.
Wer wird schon einmal evakuiert? Abwechslung im tristen Alltag ist wie das
Salz in der Suppe. So gesehen müssten wir noch nachzahlen für
das, was hier heute geboten wurde. Und heute abend gibt es wieder ein neues
Abenteuer: Wie komme ich nachhause? Ob die S-Bahn wieder fährt? Ob
es einen Bus gibt? Ich freue mich schon. Da gibt's zuhause was zu erzählen.
(aufgeschrieben 18.6.01 abgetippt 20./21.6.01 Matthias Weisser)
kam in der SZ LKS Hachinger Tal 23./24.6.01 S.R3